Ein halbes Jahr nach der totalen Sonnenfinsternis vom 22. Juli 2009, bei der der Mond relativ zur Sonne größer war als irgendwann sonst in diesem Jahrhundert, kam es am 15. Januar 2010 noch dicker – buchstäblich: Diesmal war der scheinbare Monddurchmesser im Verhältnis zur Sonne kleiner als bei irgendeiner anderen ringförmigen Sonnenfinsternis im ganzen 3. Jahrtausend.
Das Ergebnis war der nahezu dickste überhaupt mögliche Feuerring, und wer sich im Indischen Ozean in der Mitte der Annularitätszone westlich der Malediven aufhielt (vgl. Kasten), konnte ihn bis zu 11 Minuten und 8 Sekunden lang am Himmel sehen. Entsprechend war dieser Archipel vor der Südspitze Indiens ein beliebtes Ziel von Finsternisjägern gewesen, gefolgt von den indischen Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu, wo im Süden noch die 10-Minuten-Grenze überschritten wurde, und Ostafrika mit dem Feuerring am Morgen. Im Gegensatz zu totalen Sonnenfinsternissen, wo fast jeder die maximale Zeit im vollen Mondschatten bevorzugt und Richtung Zentrallinie drängt, existieren bei ringförmigen Sonnenfinsternissen aber auch gute Gründe, sich stattdessen bis fast an den Rand der Annularitätszone zu begeben. Hier dauert die Ringphase zwar nur noch etwa eine Minute, und der Mond steht nie zentral vor der Sonne. Aber dafür verlangsamen sich jene Phänomene bei den beiden inneren Kontakten des Mond- und des Sonnenrandes dramatisch, die für viele – vor allem Astrofotografen – den eigentlichen Reiz dieses Typs von Sonnenfinsternissen ausmachen.
In Randnähe gleitet der gezackte Mondrand fast streifend über den Sonnenrand, den er kurz vor dem zweiten Kontakt, der die Ringphase einleitet, an immer weniger Stellen unterbricht. Licht von der gleißend hellen Photosphäre gelangt zunächst nur durch wenige »Täler« des Mondes zur Erde: Zwischen den immer schneller aufeinander zu strebenden Hörnerspitzen der Sonnensichel tauchen erste Lichtperlen auf, die zu immer längeren Bogenstücken wachsen. Schließlich wird der Ring nur noch durch einen letzten Mondberg unterbrochen, dann schließt er sich. In der Nähe der Zentrallinie spielt sich dieses äußerst dynamische Phänomen binnen weniger Sekunden ab, am Rande jedoch wird die Zeit auf eine Minute und mehr gedehnt. Dies zu beobachten und in hoher Orts- und Zeitauflösung aufzuzeichnen, ist in letzter Zeit zu einer neuen Herausforderung für engagierte Astrofotografen geworden, und nicht wenige versammelten sich am 15. Januar an einem Ort: Varkala im südindischen Bundesstaat Kerala. Hier lockten nicht nur einer der spektakulärsten Strände Asiens, sondern auch gute Infrastruktur und Hoffnung auf klaren Himmel. Neben einer Handvoll Ausländer, darunter einer kleinen Expedition des Autors, waren hier vor allem dutzende Amateurastronomen aus dem fernen Neu Delhi angereist, mit Kofferbergen voll Astrogepäck, was wiederum das Interesse der indischen Medien weckte: Wohl noch nie wurde in Presse und Fernsehen so ausgiebig über die Vorteile der Beobachtung von Sonnenfinsternissen am Rand ihrer Zone berichtet, und der englische Begriff für die Perlschnur, Baily’s Beads, war in aller Munde.
Der Aufwand lohnte sich: Keine einzige Wolke trübte den tiefblauen Himmel Varkalas am Finsternistag. Entsprechend groß ist auch die Ausbeute aus den insgesamt vier Stunden zwischen erstem und letztem, vor allem aber kurz vor dem zweiten und nach dem dritten Kontakt. Das Mondrandprofil lieferte in der Minute vor dem Schließen des Sonnenrings eine lange Kette von Baily’s Beads, während nach seinem erneuten Aufreißen vor allem eine Lichtperle das Bild dominierte. Der klare Himmel erlaubte aber auch – bei viel längerer Belichtung oder geringerer Filterung – den klaren Nachweis des roten Bandes der Chromosphäre zwischen den Hörnerspitzen des nicht komplett geschlossenen Rings. Und auf etlichen Photos ist sogar deutlich das Glimmen der inneren Korona hinter dem Mondrand zu erkennen: Selbst der gegenüber liegende dickste Sonnenring des Jahrtausends konnte das nicht verhindern, eine neue Erkenntnis. Anderswo im südlichen Indien wurde die Finsternis bei vielfach ähnlich klarem Himmel mit Großveranstaltungen gefeiert (in Kerala war aus dem Anlass eigens eine amateurastronomische Organisation gegründet worden), an den anderen Hauptbeobachtungsplätzen auf den Malediven und in Kenia war der Feuerring hingegen oft nur durch Wolken zu sehen, dafür aber ohne künstliche Filter, die sonst bei Ringfinsternissen unverzichtbar sind. Und sogar für wissenschaftliche Experimente wurde die Finsternis genutzt, die praktischerweise zwei südindische Raketenstartplätze traf: Hier wurde ein Dutzend Höhenforschungsraketen gestartet, um Auswirkungen des verringerten Sonnenlichts auf die Geophysik der Hochatmosphäre zu untersuchen.
Daniel Fischer
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