„Spannung“ um die Hubble-Konstante: der Stand der Dinge

Elf von inzwischen 19 Galaxien, in denen das Hubble Space Telescope Cepheiden (grüne Punkte) beim Lichtwechsel zuschauen konnte - und in denen auch Supernovae des Typs Ia aufgetreten sind. Deren absolute Helligkeit (die im Prinzip konstant ist) lässt sich so eichen - ein wesentlicher Schritt der "kosmologischen Entfernungsleiter" und Ableitung der aktuellen Expansiongeschwindigkeit des Universums. [Riess et al.]

Eine Falschmeldung ist gerade überall zu lesen: Man habe die Expansionsgeschwindigkeit des Kosmos neu gemessen, um geschlagene 9 Prozent größer vorgefunden als erwartet, und nun müsse die Kosmologie wieder bei Null anfangen. Wahr ist daran allenfalls, dass ein bereits seit mindestens drei Jahren bekannter Widerspruch zwischen zwei ganz verschiedenen Ableitungen besagter Expansionsrate statistisch signifikanter geworden ist: Es kann weiterhin sein, dass eine der beiden Methoden einen übersehenen systematischen Fehler enthält. Und nur wenn beide gleichzeitig Recht haben, wäre das ein – willkommener! – Hinweis auf „neue Physik“ jenseits der bewährten Standardmodelle. Eigentlich ist Kosmologie ganz einfach: Der Raum dehnt sich aus, und wenn eine Galaxie doppelt so weit von einer anderen entfernt ist, entfernen sich beide doppelt so schnell von einander. Der aktuelle Proportionalitätsfaktor dieses Gesetzes ist die berühmt-berüchtigte Hubble-Konstante H0: Noch vor wenigen Jahrzehnten war sie um einen Faktor von 2 bis 3 unsicher, aber seit den 1990-er Jahren sind ihre Bestimmungen erfreulich konvergiert. Eine besonders große Kraftanstrengung war H0 Key Project gewesen, in das viel Beobachtungszeit mit dem (nicht zuletzt deswegen so getauften) Hubble Space Telescope gesteckt wurde: 72±8 km/s/Mpc lautete das Ende 2000 verkündete Ergebnis, d.h. pro 3,3 Mio. Lichtjahren Abstand nimmt die Geschwindigkeit um gut 70 km/s zu.

Im Bereich 70 bis 75 km/s/Mpc landeten seither auch praktisch alle anderen Arbeiten, für die jeweils die Distanzen von Galaxien unterschiedlicher ‚Fluchtgeschwindigkeit‘ aufgrund der scheinbaren Helligkeit oder Größe sogenannter Standard-Objekte ermittelt werden, die an nahen Objekten desselben Typs absolut geeicht sind: Man spricht von einer Entfernungsleiter, da (mindestens) zwei Sprossen genommen werden müssen. Am weitesten entwickelt ist die Benutzung der extrem hellen Supernovae des Typs Ia – explodierenden Weißen Zwergen, die bis auf bekannte Korrekturen immer gleich hell sind – für den Entfernungs/Geschwindigkeits-Vergleich, aus dem direkt H0 folgt. Und geeicht werden diese Supernovae in nahen Galaxien, die zwar bei der kosmischen Expansion nicht mitmitmachen, deren Entfernung dafür aber mit anderen Methoden bestimmt werden kann. Dafür sind wiederum die Cepheiden besonders gut geeignet, eine Klasse pulsierender und dabei ihre Helligkeit verändernder Sterne, für die – wiederum mit bekannten Korrekturtermen – eine klare Beziehung zwischen Absoluthelligkeit und Pulsations- und damit Helligkeitsperiode gilt. Beim H0 Key Project war vor allem die Cepheiden-Eichung noch ziemlich ungenau, woraus die Gesamt-Ungenauigkeit seines Endergebnisses von 11% folgte. Die neue umfangreiche Arbeit nun hat – vor allem dank der seither von Astronauten installierten besseren Kameras Hubbles und erheblich mehr Eich-Galaxien – diesen Fehlerbereich auf 2,4% reduzieren können: 73,0±1,8 km/s/Mpc lautet die neue Hubble-Konstante.

Von einer überraschenden Abweichung, um ein Zehntel gar, kann also keine Rede sein: Die neue Arbeit – unter Leitung des Nobelpreisträgers Adam Riess – von diesem April bestätigt rund 15 Jahre danach genau das Ergebnis des H0 Key Project, aber mit nur noch 22% so großen Fehlerbalken. Damit ist aber die statistische Signifikanz des Widerspruchs zwischen dieser „lokal“ bestimmten Hubblekonstanten (die immer noch Entfernungsmessungen über Milliarden Lichtjahre hinweg benutzt) und ihrer Ableitungen aus Vermessungen von Mustern in der Reststrahlung des Urknalls – zuletzt durch den ESA-Satelliten Planck – gestiegen: Schon seit Jahren hat er als ‚tension‘ (Spannung) für gewisse Unruhe gesorgt. Die Planck-Forscher hatten keck behauptet, die ‚lokalen‘ Kosmologen müssten wohl irgendeinen Fehler gemacht haben, Riess und Co. äußern nun denselben Verdacht gegenüber Planck, da der Widerspruch zu entsprechenden Analysen eines anderen Satelliten (WMAP) geringer ausfällt. Aber sie diskutieren auch die theoretische Möglichkeit, dass beide Seiten Recht haben: Man könnte sich z.B. Erweiterungen des ansonsten bestens bewährten Standardmodells der Teilchenphysik vorstellen, die das Muster der Urknall-Strahlung in der gewünschten Richtung verändert hätten. Und der Tag sei nicht mehr fern, wenn die ‚lokale‘ Hubblekonstante sogar auf 1% genau bekannt sei – das werde es erlauben, immer konkreter exotischen Ideen nach zu gehen und vielleicht tatsächlich die Physik zu erweitern. Irreführende Sensationsschlagzeilen werden dieser spannenden Forschung in keiner Weise gerecht.

Daniel Fischer

LINKS:
Die Arbeit von 2016: http://arxiv.org/abs/1604.01424
Ihr Urahn von 2000: http://arxiv.org/abs/astro-ph/0012376
Ein Press Release: http://news.berkeley.edu/2016/06/02/universe-expanding-faster-than-expected/

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