Tunguska-Katastrophe durch Komet »bewiesen«?

Ein Luftbild aus dem Jahr 1938 zeigt die scharenweise in dieselbe Richtung umgestürzten Bäume in der Tunguska-Region, 30 Jahre nach dem gewaltigen »Airburst«, dessen Druckwelle aus 10km Höhe für die dramatischen Folgen verantwortlich war. [Tunguska-Seiten der Universität Bologna]
Seit nunmehr 101 Jahren sorgt die gewaltige Explosion hoch über der sibirischen Tunguska-Region am 30. Juni 1908 für Diskussionen. Sieht man von exotischen Lösungsversuchen ab und geht von einer kosmischen, aber natürlichen Katastrophe aus, dann wird in der Regel gefragt, ob damals ein Komet oder ein Asteroid noch vor einem Einschlag dem Luftwiderstand zum Opfer fiel — und da sich die konkreten Hinterlassenschaften des Impaktors am Boden in Grenzen halten, müssen andere Argumente herangezogen werden. Am 24. Juni konnte sich der Pressedienst der renommierten Cornell-Universität in den USA in dieser Angelegenheit kaum mehr halten: »Ein Rätsel gelöst«, tönte die Überschrift einer Pressemitteilung, denn »der Space Shuttle zeigt, dass die Tunguska-Explosion von 1908 von einem Kometen verursacht wurde«. In einer im Druck befindlichen Forschungsarbeit war da ein weiter Bogen von der möglichen Rolle des Space Shuttle beim Auslösen Leuchtender Nachtwolken (NLCs) zu deren verstärkter angeblicher Sichtung nach Tunguska gezogen worden, zuzüglich ziemlich spekulativer Wassertransportprozesse aus der Troposphäre bis in die Mesosphäre, wo sich die eisigen Wolken in über 80 km Höhe bilden. Große Wassermengen habe der Impaktor mitgeführt, war die kühne Folgerung, und deswegen könne es nur ein Komet gewesen sein, der da zerborsten war, mit den Leuchtenden Nachtwolken als Folge.

Da Tunguska immer eine gute Story hergibt, wurde der Cornell-Text von zahlreichen Medien aufgegriffen (wobei in Österreich ein populärer Pressedienst kräftig nachhalf) — und nur ganz selten wurde einmal hinterfragt, ob da wirklich ein Beweis geführt worden war. Nur wenige Journalisten und Blogger haben sich daran erinnert, dass das Tunguska-Problem eigentlich schon Anfang 1993 gelöst worden war: Damals hatten drei amerikanische Impaktspezialisten das Verhalten unterschiedlich dichter Körper beim Eintritt in die Erdatmosphäre mit Tunguska-Parametern zum ersten Mal systematisch durchgerechnet — und waren zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt: Während ein Eisenasteroid bis zum Erdboden durchgeschlagen wäre und einen großen Krater hinterlassen hätte, zerbricht ein Steinasteroid von einigen Dutzend Metern Durchmesser in den beobachteten rund 10km Höhe — während es einen chondritischen Körper oder gar einen Komet in noch viel größerer Höhe zerrissen hätte. »Geeicht« worden waren ihre Formeln unter anderem an den Radarbildern Magellans von der Venusoberfläche: Zahlreiche diffuse glatte Flecken sind dort die Folge von Tunguska-artigen »Airbursts« eingedrungener kleiner Asteroiden, denen die dichte Atmosphäre Einhalt gebot. Die Verhältnisse ließen sich dann auf die Erdatmosphäre umrechnen.

Die Arbeit von Chyba, Thomas & Zahnle, die im Januar 1993 in Nature erschien, hat — bis auf Details des Eindringprozesses — auch heute noch Bestand, und Christopher Chyba wie Kevin Zahnle waren gerne bereit, gegenüber interstellarum zu erklären, wo sich die Cornell-Forscher vermutlich geirrt haben. Die Autoren übersahen, dass die Luft im betroffenen Teil Sibiriens im Sommer ausgesprochen feucht ist: Das damals explodierte Luftvolumen, das dann in die Höhe gestiegen ist, enthielt grob hundertmal so viel Wasserdampf wie ein Komet mitgebracht hätte! Wenn es sich bei den Leuchterscheinungen in der Atmosphäre tatsächlich um Leuchtende Nachtwolken gehandelt hat (und nicht z.B. um Staub, den der Impaktor hinterließ und der optisch ganz ähnlich wirken kann), dann wäre es völlig egal gewesen, ob ein Komet oder ein Asteroid explodierte, ganz abgesehen davon, dass auch Asteroiden größere Wassermengen mitführen können. Es gibt deshalb keinerlei Grund, am Standardbild des »Airbursts« eines kleinen Asteroiden als Tunguska-Erklärung zu rütteln.

Daniel Fischer

Die Tunguska-Forscher in Bologna: www-th.bo.infn.it/tunguska
Der Cornell-Text: www.news.cornell.edu/stories/June09/TunguskaComet.html
Eine österreichische Variante: pressetext.ch/news/090625020/komet-schuld-an-mysterioeser-katastrophe-von-1908
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