Der jüngste Supernovarest der Milchstraße

So wurde die rasante Expansion des Supernovarests entdeckt: Überlagert sind hier die VLA-Radiokarte von 1985 in Blau und das Chandra-Bild von 2007 in Orange. [NASA/CXC/NCSU/S.Reynolds et al. und NSF/NRAO/VLA/Cambridge/D.Green et al.]
Zwei- bis drei Mal pro Jahrhundert sollte es in unserer Milchstraße zu einer Supernova-Explosion kommen – aber nicht nur berichten die Chroniken von allenfalls einem halben Dutzend beobachteter Supernovae im vergangenen Jahrtausend, es fehlten auch die viele Jahrhunderte überdauernden Explosionswolken aus jüngerer Zeit. Der jüngste bekannte solche Supernovaüberrest (SNR) war lange Zeit Cassiopeia A, der um 1680 entstanden ist, aber jetzt ist er abgelöst worden: Vermutlich zwischen 1890 und 1900 hat sich die Sternexplosion ereignet, die den Überrest G1.9+0.3 hinterließ. Entdeckt wurde er bereits 1984 und erstmals 1985 mit dem Radiointerferometer Very Large Array im Detail kartiert (Bild: blau), doch dass er weit jünger war als jeder andere bekannte SNR ahnte damals niemand. Erst als 2007 das Röntgenteleskop Chandra neue Detailbilder gewann, fiel eine enorme Expansionsgeschwindigkeit auf: Die Schale der Supernova-Ejekta (die im Radio- und Röntgenbereich üblicherweise recht ähnlich aussieht), war in der Zwischenzeit um 16% gewachsen! Um ganz sicher zu gehen, wurde neue Beobachtungszeit mit dem Very Large Array beantragt (und binnen einer Woche genehmigt): Die neue Radiokarte zeigt genau dieselbe Expansion wie die Röntgendaten, auf heute 100″ Durchmesser. Bei konstanter Expansionsgeschwindigkeit hätte der SNR vor 140 Jahren die Ausdehnung Null gehabt, doch interstellares Gas bremst Supernovareste stets etwas ab: Die Explosion dürfte kaum mehr als 100 Jahre zurückgelegen haben.

Gesehen hat die Supernova damals freilich niemand, und das ist auch kein Wunder: G1.9+0.3 liegt nahezu exakt in Richtung des Zentrums der Milchstraße und – wie die Eigenschaften seiner Röntgenstrahlung zeigen – mit 27000 Lichtjahren auch grob in dessen Einflussbereich. Nur ein Billionstel des grellen Lichts der Explosion hätte die Erde durch den vielen Staub der Milchstraßenebene erreichen können. Auch der heutige SNR ist auf selbst den tiefsten Aufnahmen im Optischen oder Infraroten unsichtbar. Im Radio- und Röntgenbereich lässt er sich dagegen im Detail untersuchen, und nicht nur sein Alter stellt einen Rekord dar. Ebenso liegt die Expansionsgeschwindigkeit der Gasschale von einem Zwanzigstel der Lichtgeschwindigkeit (14000km/s) weit über der jedes anderen SNR und entspricht eher Messungen an wenige Wochen alten Supernovae. Noch hat G1.9+0.3 auch die größte Radiohelligkeit aller Supernovareste der Milchstraße bei gleichzeitig dem geringsten Winkeldurchmesser, wobei die Radiostrahlung derzeit sogar noch zunimmt, statt wie bei älteren SNR mit der Zeit abzunehmen. Überdies beschleunigt G1.9+0.3 Elektronen auf höhere Energien als jeder andere Supernovarest, 100 TeV und mehr werden erreicht. Noch hat sich sein Gas nicht mit dem interstellaren Medium vermischt: Zum ersten Mal hat die Astrophysik ein Objekt in Händen, das den Übergang zwischen dem Supernovaphänomen selbst und dem langlebigen Überrest darstellt, und längst sind Beobachtungen mit weiteren Instrumenten in Arbeit. Statistisch gesehen müsste es in der Milchstrasse ein paar noch jüngere Supernovareste geben.

Daniel Fischer

Material von einer NASA-Telecon (inkl. des Original-Papers): chandra.harvard.edu/photo/2008/g19/media/
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