Zum ersten Mal seit dem 31. Dezember 1998 ist die letzte Minute dieses Jahres wieder eine Sekunde länger, und auf 23:59:59 UTC (Koordinierte Weltzeit = MEZ – 1 Stunde) folgt 23:59:60, bevor der 1. Januar 2006, 00:00:00 UTC anbricht. Dies ist die 23. derartige Schaltsekunde seit der Einführung dieses Korrektivs 1972: Es sorgt dafür, dass die UTC niemals um mehr als 0,9 Sekunden von der UT1 abweichen kann, einer anderen »Weltzeit«, die direkt von der Erdrotation vorgegeben wird. Seit Jahrtausenden basiert die Zeitmessung auf astronomischen Beobachtungen, und die heute gültige Länge der Sekunde entsprach im Jahr 1820 genau dem 86 400. Teil eines Sonnentages. Dummerweise wird die Erdrotation aber ständig langsamer und damit der Tag um 17 Mikrosekunden pro Jahr länger: Hauptverantwortlich ist die Gezeitenreibung durch den Mond, die sogar 23 µs/a verursachen würde, wenn nicht andere Effekte wie langfristige Veränderungen des Erdkörpers seit der letzten Eiszeit einen umgekehrte Wirkung hätten.
Nach vielerlei Reformen in den vergangenen gut hundert Jahren geht die heutige Zeitregelung eine Art Mittelweg zwischen der Anbindung der Weltzeit an die Erdrotation und der weit stabileren Zeitmessung mit Atomuhren. Ein weltweites Netzwerk aus extragenauen Atomuhren – zu dem in Deutschland die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig beiträgt – definiert durch ständigen Abgleich untereinander die extrem gleichmässig tickende Internationale Atomzeit TAI, aus der die Koordinierte Weltzeit UTC abgeleitet wird: durch Addition immer neuer Schaltsekunden, auf dass die Sonne im Mittel immer noch punkt 12 Uhr Mittags über dem Nullmeridian kulminieren möge. Als die UTC am 1.1.1972 eingeführt wurde, war die Differenz zur 1958 gestarteten TAI bereits auf 10 Sekunden angewachsen: Bis heute abend gilt noch UTC = TAI – 32 s und ab dem 1. Januar dann UTC = TAI – 33 s.
Zwar hatte sich die Abnahme der Erdrotation in den vergangenen Jahren derart verlangsamt, dass ungewöhnlich lange keine neuen Schaltsekunden mehr benötigt wurden, doch dies muss eine kurzfristige Anomalie sein: Alle Geophysiker sind sich einig, dass in Zukunft wieder mehr Schaltsekunden nötig werden – und irgendwann sogar mehr als eine pro Jahr. Seit Jahren wird bereits darüber debattiert, ob man dieses unpraktische Korrektiv nicht ersetzen oder ganz weglassen könnte, zum Wohle grösserer Sicherheit all jener technischen Systeme, die eine kontinuierlich durchlaufenden Zeit benötigen, Computernetzen etwa, Navigationssatelliten oder der Flugsicherung. Der Nachteil wäre eine zunehmende Entkopplung der Zeit vom Stand der Sonne (oder den nächtlichen Positionen der Sterne), was zunächst wie das geringere Übel scheinen mag, da heute kaum mehr anhand des Himmels navigiert oder die Zeit bestimmt wird. Aber näher betrachtet droht doch eine Fülle ungünstiger Konsequenzen. Die Vor- und Nachteile verschiedener Konzepte:
Der radikalste Vorschlag schliesslich, »einfach« die Sekunde etwas länger zu machen, so dass sie wieder 1/86 400 des heutigen Sonnentages ist, würde das gesamte System der Masseinheiten und der Physik gründlich durcheinanderwirbeln – und eine Lösung auf Dauer wäre es auch nicht, weil der Tag ab diesem Zeitpunkt erneut immer länger werden würde. Das ausschlaggebende Gremium für solche Fragen ist die Internationale Fernmeldeunion ITU: Ihr lag vergangenen Herbst der Vorschlag der amerikanischen Delegation vor, die UTC de facto abzuschaffen und durch die TAI zu ersetzen, mit Schaltstunden statt -sekunden, wobei die erste im 27. Jh. fällig werden dürfte. Der Plan – gegen den vor allem Astronomenverbände Sturm liefen – wurde schliesslich für’s erste fallengelassen, auf dass noch weiter diskutiert werden möge. Und so wird es zumindest in den nächsten paar Jahren weiter Schaltsekunden geben, doch die Suche nach einer idealen Lösung geht weiter …
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