Ein Workshop über die letzte ringförmige Sonnenfinsternis und ihre Randeffekte

Das spektakulärste Video kam aus der abgelegensten Ecke: Mitten in der südtunesischen Wüste, dicht an der Grenze zu Algerien, hatte Torsten Schäfer nahezu perfekt auf jener Linie gestanden, wo sich der Sonnenring vom 3. Oktober fast gar nicht mehr schloss, am absoluten Südrand der Zonne der Annularität. Mit enormer Vergrößerung war zu sehen, wie die Hörnerspitzen der Sonnensichel aufeinander zu krochen aber sich dann nicht einfach trafen: Zwischen ihnen tauchten mehr und mehr unterschiedlich lange extrem schmale Lichtbögen auf und verschwanden wieder, während der Mond mit seinem rauen Profil am inneren Sonnenrand entlangschrammte und sich der Ring endlich für kurze Zeit schloss. Viele Sekunden dauerte das Schauspiel auf beiden Seiten der Ringphase: Nur in der Nähe der Ränder der Ringförmigkeitszone vollzieht sich dieses sogenannte Perlschurphänomen so langsam, dass man es in allen Einzelheiten verfolgen und aufzeichnen kann. Und nur diese Beobachtungen haben auch einen wissenschaftlichen Wert: In dem Spektakel kann eine Menge Astrophysik stecken.

Zu sehen und zu erfahren war das auf einem kleinen Workshop für Freunde solcher Randphänomene, zu dem u.a. der Autor am 19. November in einen Seminarraum des Astronomischen Instituts der Universität Bochum geladen hatte: 15 Beobachter der Ringfinsternis vom 3. Oktober aus dem ganzen Bundesgebiet waren gekommen, Spezialisten für exotische Fotoexperimente darunter, vor allem aber engagierte Beobachter von Sternbedeckungen durch den Mond. Für letztere – überwiegend in der International Occultation Timing Association / European Section (IOTA/ES) organisiert – sind Sonnenfinsternisse nicht (nur) eine Show am Himmel, für die man weite Reisen unternimmt, sondern auch ein hochpräziser Messvorgang, den die Natur freihaus zur Verfügung stellt. Gemessen wird nämlich, wenn auch auf ziemlich indirekte Weise, der Durchmesser der Sonne, und das auf wenige Kilometer (oder Teile pro Million!) genau: Es könnte sein, dass er mit dem Sonnenzyklus oder auch langfristiger schwankt (eine Variation um wenige hundert Kilometer scheint in Daten der Vergangenheit zu stecken), was wiederum von fundamentaler Bedeutung für die Astrophysik wäre.

Der Durchmesser des Mondes ist dagegen eine Konstante und seine Bahn im Raum – so kompliziert ihre Berechnung im Einzelnen auch ist – gut im Griff. Wo der Beobachter auf dem Globus steht, ist zu ermitteln dank GPS heute ebenfalls ein Leichtes. Und die Theoretiker dieses exotischen Teilgebietes zwischen Astrometrie und Himmelsmechanik sind zu dem Schluß gekommen, dass der beste Weg zur Messung des Sonnendurchmessers mit Hilfe der Perlschnur gelingen sollte, wenn man sie am Rand der Ringförmigkeits- oder auch Totalitätszone per Video aufzeichnet, präzise Zeitmarken, bei denen die Fehlertoleranz höchstens ein paar Zehntelsekunden beträgt, inklusive. Per Computer – spezialisierte Software existiert inzwischen und wurde auf dem Workshop auch praktisch vorgeführt – wird dann der theoretisch zu erwartende Ablauf des Perlschnurphänomens für verschiedene Sonnendurchmesser simuliert: Derzeit konzentriert man sich auf die Zeitpunkte des Erscheinens oder Verschwindens bestimmter Perlen (auch Baily’s Beads genannt), die enorm von der Position des Beobachters auf der Erde und eben dem Sonnendurchmesser abhängen.

Den »besten« Durchmesser ermittelt man dabei durch den Vergleich der Voraussagen der Software und der tatsächlichen Beobachtungen. Auf der Tagung wurde angeregt darüber diskutiert, ob die genauen absoluten Zeitangaben – die in eine Videoaufzeichnung zuverlässig einzufügen überraschend schwierig ist – wirklich nötig sind: Vielleicht genügt es bereits, den Ablauf des kompletten Perlschurphänomens an sich zu vergleichen. Und auch zur Auswertung der exakten Zeitpunkte des Auftauchens oder Verschwindens der Beads könnte sich eine Alternative auftun: Serien scharfer Einzelbilder mit klar erkennbarem Perlenmuster dürften auch nur bei einem ganz bestimmten Sonnendurchmesser genau in dieser Form auftreten. Noch stehen diese Analysen am Anfang, und es fehlt vor allem noch an Beobachtungen: Nur Videos oder Bilderserien von nahe den Randzonen sind überhaupt auswertbar. Denn dann kratzen die Regionen um den Nord- bzw. Südpol des Mondes am Sonnenrand entlang, und nur hier ist das Höhenprofil des Erdbegleiters für die Analyse ausreichend gut bekannt.

Kein Mondorbiter und auch keine noch so guten Mondfotos von der Erde aus haben bisher so gute Angaben über die dreidimensionale Gestalt des Mondes geliefert wie streifende Sternbedeckungen: Die Topografie des Erdbegleiters ist global gesehen sogar deutlich schlechter bekannt als die des Mars (Zuber & Garrick-Bethell, Science 310 [11.11.2005] 983-4)! Bei streifenden Sternbedeckungen erwischt der Mond einen Stern nur knapp an seinem nördlichen oder südlichen Rand, er verschwindet hinter einem Mondberg und taucht vielleicht auch wieder auf, um erneut vom nächsten bedeckt zu werden. Da die Mondachse in allen Richtungen schwankt (Libration), werden solche Messungen immer noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchgeführt, und sie verbessern die Kenntnis über die Mondtopografie in der Nähe von Nord- und Südpol stetig weiter. In geringeren Mondbreiten und natürlich am Äquator kann es dagegen nur zu einfachen Ein- und Austritten von Sternen kommen, die selbst bei sehr genau gemessener Zeit nicht annähernd die topografische Qualität streifender Sternbedeckungen liefern (im IOTA-Jargon auch »Streifungen« oder »grazes« genannt): Bei ihnen wird durch den schrägen Winkel, unter dem der Mond den Stern (oder den Sonnenrand) trifft, die räumliche Auflösung bei gleicher Qualität der Zeitmessung gewaltig vergrößert.

Wer also eine ringförmige Sonnenfinsternis in der Nähe der Zentrallinie beobachtet, erlebt nicht nur ein wesentlich hektischeres Perlschurphänomen als Beobachter am Rand der Zone: Selbst präzise Aufzeichnungen mit Hochgeschwindigkeitskameras würden sich lange nicht so gut auswerten lassen, weil das Mondrandprofil schlechter bekannt ist. Aus diesem Grund begeben sich »Profis« für Ringfinsternisse (aber auch für totale) ausschließlich an den Rand der Finsterniszone, und auf der Tagung wurde angeregt debattiert, wo denn dort nun der allerbeste Standort sei. Außerhalb der beiden sogenannten »interior limits«, auf dem sich der Ring für Null Sekunden schließt und dann kein Mondberg mehr den Ring unterbricht, liegen noch jeweils mehrere Kilometer breite Zonen, in denen sich der Ring nicht schließt, aber zwischen den Hörnerspitzen der Sonnensichel zuhauf Beads erscheinen und wieder verschwinden. Und die Frage ist auch, ob man den Nord- oder den Südrand aufsucht: Am Nordrand sorgt die zerklüftetere Südpolregion des Mondes für relativ wenige aber spektakulär helle Perlen, am Südrand der glattere Mondnorden für viele aber allesamt schwächere Lichtperlen. Am besten sprechen sich die Beobachter vorher ab und verteilen sich auf beide Randzonen: Nur mit guten Daten von beiden Rändern lässt sich der Sonnendurchmesser zuverlässig eingrenzen.

Nicht alle Teilnehmer des Bochumer Workshops – geschweigedenn der Sonnenfinsternisfreunde insgesamt – lassen sich freilich von rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten leiten: Vielfach stehen besondere fotografische Experimente im Vordergrund, um die Beads und die Chromosphäre dazwischen optimal ins Bild zu setzen. Einige der besten Ergebnisse vom 3. Oktober wurden von den Fotografen selbst vorgestellt, von Tobias Kampschulte und Willem van Kerkhoff, die z.T. sekundenlang durch Filter belichtet hatten, von Dirk Ewers, der seinen CCD-Chip halb abgeklebt hatte, und vom Autor, der ohne Filter auf den durchbrochenen Ring hielt. Besonders gefeiert wurde der – schemenhafte – Nachweis der inneren Sonnenkorona durch Kampschulte auf Bildern noch etliche Minuten nach dem 3. Kontakt, was die Frage aufwarf, wie partiell eine Finsternis eigentlich sein darf, damit das immer noch klappt. Nach fast sieben Stunden Bilderschau und Diskussion zogen die Teilnehmer des Workshops zufrieden von dannen: Man hatte Exotisches gesehen, viel gelernt und reichlich Motivation getankt – für kommende Abenteuer am Rande des Üblichen.

Daniel Fischer

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